Nie noch waren der Rhythmus und die Massen des Klangs anderweitig zerrissen worden als auf jene durchaus maßvolle Weise, wie man ein Tier zerlegt. Stets blieb noch ein Rückgrat regulärer Intervalle, die Eselsbrücke der Schüchternen über dem Graben der Töne… Trotz angeblicher Freiheiten ging es der Harmonie nicht schlecht, und selbst bei den größten Ausbrüchen wurde immer nur der Blumenpott einmal richtig durchgeschüttelt, damit die Blütenblätter auf eine noch direkter berauschende Weise herunterschneiten. Alles in allem war man schön brav – trotz einiger Heftigkeiten. Und war man der Spiele und der Blumendüfte einmal müde, so wußte man nichts Angenehmeres, als die große Disziplin zu beschwören, die strenge Grazie der mathematischen Gottheiten, schön und still wie Bilder in ihren schlichten, kantigen Vitrinen.
Man hatte allerdings nicht daran gedacht, oder es nicht gewagt, diese Logik bis zu ihrem grausamen Ende zu treiben, bis zu den Grenzen der Frenesie, dorthin, wo jene sympathische Gottheit, die dann ihres letzten Schleiers beraubt ist, jäh in ihrer schrecklichen, blendenden Gestalt dasteht und zu erkennen gibt, daß sie viel eher Schrecken auszulösen vermag als noch die verzweifeltste Lust. Arnold Schönberg ist nun derjenige, der vor der Erfüllung des Sakrilegs nicht zurückschreckte; und wie rechtens hat ihn alles Gewieher des Unverstands dafür belohnt...
Jede Art von Beschreibung läuft darauf hinaus, in ihrem Gegenstand etwas Menschliches auszumachen, alles das auf unser Menschenmaß zurückzuführen, was die Dinge – eben weil sie von uns geschieden sind – an Maßlosigkeit besitzen…
Wir müssen uns endlich daran gewöhnen, nicht in allem nur das Angenehme zu suchen. Die Musik ist genauso wenig dazu da, die Ohren zu berauschen, – und sei es auf eine spröde, nüchterne Weise – wie die Malerei dazu dient, die Augen zu betören. Sie wendet sich notgedrungen an das Gehör, wie die Malerei an das Auge, mehr läßt sich dazu kaum sagen. Und auch hier könnte es noch darum gehen, das Ohr auf eine rein imaginäre Weise anzusprechen (– als wäre die Musik mehr noch zu lesen als zu hören. Aber die Musik Schönbergs scheint mir heute, im Jahre 1966, eine der direktesten überhaupt, so sehr wirkt hier die Gewöhnung und ändert sich der Geschmack.)
Machen wir ein für allemal Schluß… vor allem milden Geschwafel über das Schöne oder das Häßliche, das »Konsonante« oder das »Dissonante«; kein überflüssiges Wort mehr darüber, was man für klassisch ansieht oder für romantisch, für alt oder modern, rückschrittlich oder vorwärtsweisend. …
Die Schlacht gegen die äußere Welt, die wir von altersher zu führen gezwungen sind – um sie geht es vor allem; darum, ihre rohen Finten durch noch rohere, wildere Listen zu Fall zu bringen. Hinter der scheinbaren Vielfalt der Prozesse, den eine dieser Listen (die man vor nicht allzu langer Zeit noch die »Schönen Künste« nannte) gegen die Welt anstrengt, wird heute nur noch ein einziger Prozeß verhandelt: der der Wirklichkeit. In ihrem Angriff auf Zeit und Raum (die der Entwurf der Realität selbst sind) finden Musik und Malerei jeweils ihre höchste Seinsberechtigung.
Weit hinausgehend über die Lösungen, die seine, von Ratio, Humor oder Brutalität berückten Zeitgenossen vorschlugen, hat Arnold Schönberg einen genialen Teil an diesem Prozeß. Denn in seiner restlosen Hingabe an jenen »inneren Zwang« (er sagte selbst von ihm, daß er sein Sklave gewesen sei), schreckte er nicht davor zurück, die Musik an einem Punkt anzusiedeln, der – schroffer noch, gefahrvoller noch als jeder andere – der Grat des Taumels selbst ist, bespickt mit reißenden Zacken.
(1929/1966)

Die Lust am Zusehen. Frankfurt 1981